China – Rätsel einer Nation mit 1,3 Milliarden Einwohner und schier unbegrenztem Reiskonsum. So zumindest die Wahrnehmung im Westen. Über die Jahrzehnte von der r(/w)estlichen Welt unterschätzt, steht das bevölkerungsreichste Land der Erde nach einem beispiellosen Aufstieg im Fokus der globalen Aufmerksamkeit. Nicht nur, weil es wirtschaftlich dem Hegemon USA bedrohlich nahe kommt; sonder auch, weil die authoritäre Führung des Landes in der internationalen Gemeinschaft immer mehr die Zügel übernimmt. Zeit, sich mit China vertiefend auseinander zu setzen.

Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon.

Augustinus Aurelius

Mit dem Buch „Die Chinesen – Psychogramm einer Weltmacht“ haben die Autoren Stefan Baron und Guangyan Yin-Baron den Weg der Aufklärung eingeschlagen. Mit dem Credo „Wo es aber an Wissen und Verständnis fehlt, blühen nicht nur Vorurteile und Stereotype, sondern auch Unsicherheit und Ängste“ sind die deutsch-chinesischen Autoren der Vermittlung bemüht, geben Einblick in die Geschichte, Kultur und Denkmuster des Milliardenreichs.

Teil 1: Psychologie, westliches Bild und geistes- sowie kulturgeschichtliche Grundlagen

Der erste Teil des 422-Seiters ist den Grundlagen gewidmet: ein Land mit der doppelten Fläche Europas, einem Gebiet, dass mehrere Zeitzonen umspannt und alle Landschafts- und Klimazonen miteinschließt, kann nur sehr divers ausfallen. Mit einer Milliardenbevölkerung sind auch Minderheiten ein gewaltiges Volk für sich: 50-60 Millionen Chinesen bekennen sich zum Christentum – mehr, als die meisten europäischen Staaten an Einwohner haben. Die Autoren unterscheiden primär in Nord- und Südchinesen; die sich neben äußerlichen Kleinigkeiten primär durch unterschiedliche Ernährung auszeichnen: Reis im Süden, Getreide im Norden. Im Norden diktiert das Interesse an Politik, im Süden an Wirtschaft und Handel – auch wenn die Autoren vor einer Generalisierung eines so großen Volkes warnen.

Das Bild des Westens hat sich in den letzten Jahrzehnten maßgeblich geändert. Da der Landweg lang und beschwerlich war und noch kein Seeweg von Europa nach China gefunden wurde, dauerte es relativ lange, bis der Westen mehr als nur Vermutungen über China anstellte. Im 13. Jahrhundert waren es Kaufleute, darunter Marco Polo, die das westliche Bild über das Reich der Mitte zeichneten. Als wohlhabendes, gesittetes und vor allem friedliches Volk wurden die Chinesen wahrgenommen. Der Austausch von Waren und Wissen verstärkte sich dann durch die Erschließung des Seewegs durch Vasco da Gama. Unter den großen Denkern Europas erfreute sich China der Wertschätzung; von Jean-Jacques Rousseau zu Gottfried Wilhelm Leibniz und Voltaire waren sich viele Vordenker einig, dass Europa von Chinas wissenschaftlichem Fortschritt lernen kann und muss. Mit der aufkommenden Industrialisierung sowie Demokratisierung des Westens wandelt sich aber das westliche Bild von China. Führende Denker wie Adam Smith oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel konstatierten dem Reich der Mitte einen Mangel an Fortschrittsdrang und „Immobilität„. Mit der geistigen Geringschätzung kam auch die politische – das britische Königshaus wollte den Handel mit dem Riesenreich ausbauen, im Zweifel auch mit Gewalt – wie die resultierenden Opium-Kriege eindrucksvoll zeigen. Das Bild eines erstarrten Volkes verfestigte sich im Westen noch durch die Kulturrevolution von Mao Zedong. Mit der schrittweisen Öffnung Chinas für die Welt, ändert sich dieses Bild wieder. Vor allem der wirtschaftliche Aufschwung hat ein Raunen durch den Westen gehen lassen. Wie die Autoren festhalten:

Das China-Bild schillert und schwankt zwischen Bewunderung und Verachtung, Hochmut und Horror, Idealisierung und Dämonisierung.

Stefan Baron, Guangyan Yin-Baron

China, als ein Jahrtausende altes Reich, setzt Kultur und Geschichte sehr stark in den Mittelpunkt. Die Autoren nennen dieses Denken den „Klebstoff, der das riesige Reich der Mitte über Jahrtausende zusammengehalten hat„. Die Grundlage für diese Denke sind vor allem die Schriften von Konfuzius – Meister Kong. Der als „Herausgeber der heiligen Schriften Chinas“ bezeichnete Gelehrte hatte nicht nur Einfluss auf China, sondern auf weite Gebiete Asiens. Die Essenz der konfuzianischen Lehre ist die moralische Bildung des Menschen, damit diese in Harmonie miteinander leben können. Erreicht soll diese Harmonie durch eine Selbstkultivierung werden. Dabei sieht Konfuzius den Menschen nicht rein als autonomes Individuum, sondern als Teil eines gemeinschaftlichen Gesellschaftsorganismus. Wie es die Autoren sehr treffend beschreiben:

Zusammen mit Taoismus, Buddhismus, Legalismus und Mohismus bildet der Konfuzianismus ein Substrat von Denk-, Gefühls- und Verhaltensmustern

STEFAN BARON, GUANGYAN YIN-BARON

Mit diesen Jahrtausenden alten Mustern des gesellschaftlichen Zusammenlebens scheint es auch kein Wunder zu sein, dass sich Maos Kulturrevolution nicht durchsetzen konnte. Immer wenn Ideen aus dem Ausland ihren Weg nach China gefunden hatten, wurden diese in die eigenen Kultur- und Denkensmuster eingearbeitet – angepasst an den Klebstoff der chinesischen Gesellschaft.

Teil 2: Erziehung, Denken, Sprache und Gesellschaft

Mit einem vom westlichen Weltbild stark abweichenden Wertesystem, differenziert sich die Erziehung sowie die Sozialisation stark. „Der Mensch existiert für sie nur in und durch die Beziehungen zu seinen Mitmenschen„, so die Autoren. Mit dieser weniger von der Autonomie des Individuums geprägten Selbstanschauung verwundert es nicht, dass das Gruppendenken im Alltag überwiegt. Dies zeigt sich neben der Benennung von Diensten (z.B. WeChat vs iMessage) vor allem in der Esskultur: gegessen wird nahezu ausschließlich in Gruppen, mit geteilten Speisen an einem runden Tisch – damit jeder zugreifen kann.

Der Begriff der „Gesellschaft“ ist in China trügerisch. Wie die Autoren erklären, ist in der konfuzianischen Lehre der Mensch ein Produkt seiner Eltern und Ahnen. Daher ist die „Basiseinheit“ der chinesischen Gesellschaft die Familie. Diese Klassifizierung ist insofern wichtig, da diese aufzeigt, dass Chinesen nicht – wie oft angenommen – kollektivistisch erzogen werden, sondern „familistisch„. „Familie ist für Chinesen Religionsersatz, Schutzraum und Sozialsystem in einem„, so die Autoren. So verwundert es nicht, dass viele Chinesen angeben, im Falle einer Befragung durch die Polizei Falschaussagen zu tätigen, um Familie oder enge Freunde zu decken.

So sehr es nach innen, in den Kreis von Familie (und guten Freunden) hinein Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft erzeugt, so sehr weckt es nach außen den Willen, sich von niemandem übertreffen zu lassen.

STEFAN BARON, GUANGYAN YIN-BARON

Dazu kommt noch eine dem Westen fremde Auslegung von „Wahrheit„. „Für Chinesen gibt es zudem weder nur eine Wahrheit noch ewige Wahrheit, sondern nur situative, relative Wahrheiten„, so die Autoren. Gesetze sind damit Richtungsvorgaben, die in konkreten Situationen unterschiedlich ausgelegt werden können. Im Alltag halten sich Chinesen daher eher an praktische, „verborgene Regeln„. Liegt die Situation außerhalb der Basiseinheit Familie, gilt so oder so das Recht des Stärkeren und Klügeren.

Gerade die Sprache spiegelt oft die Dogmen einer Gesellschaft wider. Putonghua, wie der Pekinger Standarddialekt genannt wird, ist eine tonale Sprache mit einem der kompliziertesten Schriftsystem auf unserem Planeten. Das Chinesische kennt zehntausende verschiedene Schriftzeichen – für das Lesen einer Zeitung muss der Leser knapp 8.000 davon kennen. Damit aber nicht genug: mit tausenden von Idiomen basiert der tägliche Umgang sehr stark auf dem Auswendiglernen von sprachlichen Mustern. Darin zeigt sich auch der starke Bildungsdrang der Chinesen – um eine so komplexe Sprache zu erlernen müssen Jahre, sogar Jahrzehnte aufgewendet werden.

Wie bereits erwähnt, ist der Begriff „Gesellschaft“ und „Kollektiv“ im Falle der chinesischen Bevölkerung trügerisch. In einer so stark familistisch und gleichzeitig auf Wettbewerb ausgerichteten Gesellschaft wie in China, gibt es nur wenige Gründe, warum man gegenüber Außenstehenden moralische Verpflichtungen haben soll. Der aus dem Mangel an gesellschaftlichem Vertrauen resultierende fehlende Gemeinschaftssinn erklärt, warum eine auf konfuzianischen Lehren basierende Gesellschaft gegenüber Nicht-Familienmitgliedern so rücksichtslos sein kann.

Außenstehenden gegenüber haben Chinesen eine geradezu darwinistische Einstellung. Die Gesellschaft ist für sie ein menschlicher Dschungel. Hier gilt grundsätzlich das Recht des Stärkeren.

STEFAN BARON, GUANGYAN YIN-BARON

Um außerhalb der Familie gemeinschaftlich arbeiten zu können, bilden Chinesen persönliche Netzwerke, die durch sogenanntes „Guanxi“ gesteuert werden. Die Autoren deuten es als „Ich gebe etwas und erwarte dafür eine Gegenleistung„. Guanxi basiert auf der Verpflichtung, eine Rückzahlung zu tätigen – in welcher Form auch immer. In einer Welt, in der Vertrauen rar ist, gibt es andere Methoden, um Geschäfte und Gefälligkeiten abzuschließen. Genießt jemand hohes Guanxi, sind Geschäfte wahrscheinlicher – immerhin wäre es ein Gesichtsverlust beider Parteien, würde der eine den anderen bevorteilen. „Gesicht“ zu wahren ist ein wesentliches Element des chinesischen Daseins – vor allem gegenüber den Eltern. Lieber hintergehen sie diese, als sie zu enttäuschen.

Wofür es im Westen staatliche Gesetze oder die Furcht der Christen vor ewiger Verdammnis sorgen soll – das muss in China ein ausgeprägtes Schamempfinden leisten.

STEFAN BARON, GUANGYAN YIN-BARON

Teil 3: Wirtschaft, Staat und die Welt

Bei all den Erfolgen Chinas steht das Wirtschaftswunder der letzten 30 Jahre am meisten im Mittelpunkt. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, immerhin konnte in wenigen Jahrzehnten aus einer stark distributierten Agrarnation ein hoch technologisiertes Schwellenland entstehen, für dessen Entwicklung die heutigen Industrienationen mehrere hundert Jahre benötigt haben. Umso beeindruckender ist dieser Wandel, da Händler mitunter zu den in der Gesellschaft am schlechtesten angesehenen Berufsgruppen zählte.

Laut den Autoren überwiegt in China schon tausenden Jahren der Markt vor dem Staat wenn es um die Wirtschaft geht. Erst durch die Legalisten beeinflusst, wurde die Eingriffe des Staates in den Markt forciert – mit Mao Zedong als Höhepunkt des chinesischen Zentralismus. Durch den als großen Reformer bekannten Deng Xiaoping wurde Chinas Wirtschaft wieder schrittweise geöffnet; hielt aber an einem Mindestmaß von staatlichem Einfluss fest. Vor allem in der Industriepolitik mischt der Staat stark mit: durch gezielte Subventionierungen wird die „sichtbare Hand“ des Staats gewahrt und die Ziele der führenden kommunistischen Partei verwirklicht. Sei es im Bereich der Infrastruktur-Entwicklung oder bei der Etablierung von globalen Großunternehmen – durch die finanzstarke Einmischung des Staates versucht das Reich der Mitte zu einem funktionierenden Binnenmarkt zu werden, um zukünftig von den Exporten in den Westen unabhängig zu werden.

Gerade in zukunftsweisenden Bereichen wie IT-Infrastruktur, künstliche Intelligenz, Bio-Tech, Elektromobilität und Weltraumtechnologie hat die staatliche Intervention China zu einem Global-Player gemacht. Der Zugang zum chinesischen Markt wird of an Know-How-Transfer gebunden, wodurch der lokale Markt von der Forschungsarbeit anderer profitiert. Auch wenn die Chinesen wissen, dass Ideenklau weniger „Return“ bringt als eigene Entwicklungen in zentralen Technologiebereichen, werden immer noch Plagiate und Wirtschaftsspionage strategisch genutzt.

Westliche Produkte zu kopieren, westliches Know-how zu stehlen, westlichen Unternehmen nicht die gleichen Rechte zu gewähren, wie sie die eigenen im Ausland genießen, und sie zum Technologietransfer zu zwingen, betrachten viele Chinesen nur als recht und billig.

STEFAN BARON, GUANGYAN YIN-BARON

Mit dem rasanten Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte sind aber auch große Probleme entstanden. Eines der Größten ist sicherlich die Umweltverschmutzung. In vielen chinesischen Städten ist die Luft so verschmutzt, dass ein Verlassen des Hauses nur mit Schutzmaßnahmen möglich ist. Das Problem wurde auch von der kommunistischen Partei wahrgenommen, die in den letzten Jahren auf eine aktive Umweltpolitik setzt. Neben der Umstellung auf Elektromobilität sind der Regierung vor allem die vielen Kohlekraftwerke ein Dorn im Auge. Bis aber die nötige Kapazität durch erneuerbaren Energiequellen bezogen werden können, wird noch viel verschmutztes Wasser den Jangtse runter fließen.

Wie ein Vater seine Kinder, so soll er sein Volk behandeln: weise, gütig und menschenfreundlich. Und wie die Kinder dem Vater, so ist auch das Volk einem solchen Herrscher Gehorsam schuldig.

STEFAN BARON, GUANGYAN YIN-BARON

Die im Westen oft wahrgenommene Staatshörigkeit der Chinesen kann durch die Jahrtausende alte Kulturgeschichte Chinas erklärt werden. Das westliche Dogma der Regierung „von der Bevölkerung, für die Bevölkerung“ beschränkt sich in China im Wesentlichen auf „für die Bevölkerung“. Schon Mao hat „Dem Volke dienen“ als Grundsatz ausrufen lassen – bis heute zeugen T-Shirts und Taschen mit dieser Aufschrift von deren Wichtigkeit in der chinesischen Bevölkerung.

Als oberstes Dogma versteht sich „Stabilität und Ordnung„: wenn die Chinesen irgendetwas aus ihrer Jahrtausenden alten Geschichte gelernt haben, dann das ohne Stabilität und Ordnung das Chaos herrscht. So ist „die Ordnung einer schlechten Regierung besser als das Chaos der Anarchie„, so der verstorbene Regimekritiker Liu Xiaobo.

Was der Westen als Staatshörigkeit fehlinterpretiert, ist die Bedeutung der daran gebundenen Bedingungen. Schafft es die Regierung nicht die Stabilität und Ordnung zu halten, wenden sich die Chinesen schneller von dieser ab, als sie Reis kochen kann.

Das hat auch Xi Jinping verstanden. Und um die Kontrolle zu behalten, greift er zu drastischen Mitteln: der permanenten Überwachung der gesamten Bevölkerung. Wie kein anderer Staat auf unserem Planeten hat es China im letzten Jahrzehnt verstanden, die Kommunikations- und Informationskanäle der Bevölkerung zu zensieren. Vor allem die Kontrolle des Internets wurde stark ausgebaut, zur Chinesischen Mauer hat sich die „Chinesische Firewall“ gesellt. Dazu kommt noch eine geplante Datenbank mit Fotos zu allen 1,4 Milliarden Einwohnern.

In Verbindung mit moderner Gesichtserkennungssoftware und fast 200 Millionen Kameras im öffentlichen Raum soll es dadurch möglich werden, innerhalb von drei Sekunden mit einer Trefferwahrscheinlichkeit von an die 90 Prozent den Aufenthaltsort jedes Staatsbürgers festzustellen bzw. ein Bewegungsprofil von ihm zu erstellen.

STEFAN BARON, GUANGYAN YIN-BARON

Doch die Idee der digitalen Kontrolle wurde noch weitergedacht: mit dem „Social Credit System“, ein durch Artificial Intelligence betriebenes Punktesystem zur „Verhaltenssteuerung„, soll die Bevölkerung in einer noch nie dagewesener Anstrengung auf Schritt und Tritt verfolgt und – bei etwaigem Fehlverhalten – bestraft werden können.

Diese für uns im Westen unvorstellbare Dystopie des allumfassenden Überwachungsstaats wird bald zur Realität: bis 2020 soll das System von einzelnen Testregionen über ganz China ausgerollt werden. Im Westen macht sich Angst vor einem Überschwappen dieser Ideologien und Technologien breit – immerhin würden diese gehörig an den Grundfesten unserer gesellschaftlichen Grundregeln rütteln.

Chinas Einfluss auf den Westen wird zunehmend als Problem wahrgenommen. Gerade beim Welt-Hegemon USA wird der schier unaufhaltsame Aufstieg des Milliardenvolks mit kritischen Augen beobachtet.

Chinas Aufrüstung, seine resolut vertretenen Besitzansprüche im Ost- und Südchinesischen Meer und die Neue-Seidenstraße-Initiative belegen, dass das Land sein Licht nicht mehr länger unter den Scheffel stellt.

STEFAN BARON, GUANGYAN YIN-BARON

Die Autoren halten aber fest, dass geschichtlich betrachtet die Chinesen als ein friedliebendes Volk charakterisiert werden kann. Chinas Elite bildete sich über Jahrtausende aus Schriftgelehrten, die sich eher mit Kalligraphie und Gedichten beschäftigten, als das Kriegshandwerk optimierten. Auch waren Soldaten gesellschaftlich noch niedriger gestellt als Händler – was sich in den letzten Jahrzehnten jedoch verändert hat.

Zuletzt war verstärkt zu beobachten, dass China sich vermehrt auf der politischen Weltbühne zu etablieren versucht. Mit dem Zurückziehen der USA von der Weltbühne hin zu nationalen Belangen, wirkt China determiniert, geopolitisches Gewicht zu gewinnen. Sei es bei der WTO oder UNO – die Chinesen bauen ihre multilateralen Anstrengungen zunehmend aus.

Europa darf bei dem Ringen um die Weltordnung der Zukunft nicht an der Außenlinie verharren und dessen Ausgang abwarten, sondern muss Partei ergreifen.

STEFAN BARON, GUANGYAN YIN-BARON

Abschließend halten die Autoren fest, dass der Aufstieg eines Landes nicht zwangsläufig zum Abstieg eines zweiten Landes führen muss. Es gelte viel mehr die Chancen zu nutzen, die sich durch eine gezielte und partnerschaftliche Zusammenarbeit ergeben. Um den durch das „erwachen Chinas“ entstandenen Herausforderungen gerecht zu werden, braucht es vom Westen mehr Aufmerksamkeit. Wir müssen lernen, das Riesenreich und dessen Bevölkerung zu verstehen – denn nur dann können wir aufeinander zugehen.


Seit Jahren beschäftige ich mich mit dem Reich der Mitte (Zhōngguó) – angestoßen durch ein Auslandssemester in Hong Kong hat mich neben Essen und Kultur vor allem die technologische Entwicklung dieses Riesenreichs in den Bann gezogen. Gerade deswegen hat mich das Buch fasziniert; neben gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Themen wird das Thema Kultur sehr umfassend beleuchtet. Mit großer Liebe zum Detail beschreiben die Autoren die Auswirkungen der Überbleibsel längst vergangener Zeit, stellen sie in den Kontext der Neuzeit und geben einen Ausblick auf die zukünftige Entwicklung Chinas. Es is ein großartiges Nachschlagewerk sowie Buch zum Schmökern.

Doch es gibt auch Grund zur Kritik. Auch wenn China und deren Bevölkerung aufgrund von kulturellen und gesellschaftlichen Unterschieden „weniger“ bzw. einen anderen Wert auf die Einhaltung der Menschenrechte sowie Rechtsstaatlichkeit legt, heißt das nicht, dass die Regierung Chinas einen Blanko-Schein für ein wahlloses Walten zu gewähren ist. So ist es aus kultureller und geschichtlicher Betrachtung schon schlüssig, dass Chinas Elite mit aller Gewalt vergangenes „Chaos“ verhindern will und deren vorgehen auch damit im Westen rechtfertigt. Doch wenn laut Berichten in der autonomen Region Xinjiang Millionen Menschen in Arbeitslagern – offiziell „re-education schools“ genannt – festgehalten werden, in der Ausgeburt eines Orwellschen Überwachungsstaats die gesamte Bevölkerung permanent durchleuchtet und Propaganda gezielt gegen Kultur-Diversität angewandt wird, kann dies nicht einfach in leichten Anekdoten und Nebensätzen abgearbeitet werden. Wie auch schon Ruth Kirchner festhält, finde ich, dass die Autoren bei diesen Thema zu sehr „der offiziellen Lesart der chinesischen Regierung folgt„. Meiner Meinung nach wird auch der geopolitische Einfluss auf Afrika und Europa zu wenig diskutiert: Milliarden fließen für Infrastruktur und Bau-Vorhaben nach Afrika um sich im Gegenzug maßgeblich Einfluss zu sichern. Das selbe Spiel in Europa: mit massiven Investments wird versucht einen Keil zwischen der EU und dem West-Balkan zu treiben – eine Strategie, die auch immer mehr die EU zum Handeln zwingt.

Unterm Strich ist das Buch aber eine absolute Lese-Empfehlung. In einer sehr lesbaren und ausführlichen Art und Weise beschreiben die Autoren die vielen Facetten Chinas, gehen auf die historische Bedeutung der kulturellen Entwicklung des Reichs der Mitte ein und stellen diese in einen modernen Kontext. Es ist wahrhaftig unerklärlich, warum es trotz des wirtschaftlichen Aufstiegs von China und der gewaltigen Fragezeichen in den Augen des Westens nicht mehr solcher augenöffnender Bücher gibt. Wie auch die Autoren am Ende des Buchs festhalten, müssen wir im Westen den Chinesen und deren Kultur viel mehr Aufmerksamkeit schenken, diese verstehen lernen und positiv an eine mögliche Zusammenarbeit herantreten.

Wie schon Konfuzius gesagt hat: „Lernen, ohne zu denken, ist eitel; denken, ohne zu lernen, gefährlich“. Bewegen wir uns aus der Gefahrenzone und beginnen endlich voneinander zu lernen. Dann werden wir auch bald erkennen, dass uns wesentlich mehr verbindet als uns trennt.

Photo by chuttersnap on Unsplash